Hoffen in der Vorhölle?

Brüder des Optimismus

Finanzmärkte: Einst Mekka des Kapitals – heute „Flowzirkus“

Die Blicke der Analysten, Ökonomen und Manager von Banken und Konjunkturforschungsinstituten gehen oft und gerne in Richtung Hoffnung machender News. Das ist auch aktuell so. Da wird für irgendwann eventuell, vielleicht und gegebenenfalls ein Ende der Pandemie, ein Ende der Firmenpleiten und eine wirtschaftliche Wende zum Besseren für möglich gehalten. Ja klar! Aber wann wird das sein – und was kommt dann? Also morgen, übermorgen, überüber-morgen … Wie heißen die Brüder des Optimismus? Richtig: Ignoranten. Möglicherweise werden Analysten, Ökonomen und Konjunkturforscher in vielen Dingen auch richtig liegen. Fakt ist indes: Wir leben heute in einer der gefährlichsten Zeiten, die die (Finanz-)Welt jemals erlebt hat. Das heißt aber auch: Die Dummheit von heute ist die Last von morgen.

 

Der Baum der Hoffnung – warten auf die nächste Blüte….. Foto: Udo Rettberg
Der Baum der Hoffnung – warten auf die nächste Blüte … Foto: Udo Rettberg

 

Klar – auf längere Sicht (30 Jahre und mehr) bin sogar ich zweifelsfrei ein Optimist. Grund: der „Druck der Vernunft“ wird auf dem Planeten Erde wirksame Veränderungen und positive Lösungen des Denkens und Handelns hervorrufen. Krisen sind bekanntlich oft Ausgangspunkt von Veränderungen – so wohl auch dieses Mal. Aber Menschen werden (sollte der Homo sapiens dann in einigen Dekaden im Universum überhaupt noch existieren) auch danach wieder Fehler machen – gleiche oder ähnliche. So ist das angeblich intelligenteste Lebewesen des Planeten Erde nun einmal gestrickt. Die Gefahr, dass der Mensch ein Fehlkonstrukt bleibt, ist groß.

Beispiel aus ökonomischer Sicht gefällig? Bitte sehr: Dort, wo in früheren Jahren Sparsamkeit herrschte, wo verantwortungsbewusste Menschen für sich selbst und ihr nahes Personen-Umfeld (Familie, Freunde und Angestellte) Vermögen aufbauten, hat sich inzwischen (auch wegen Corona) ein Verschwendungs-Gebaren entwickelt, das auf einer explosiven Kredit-Manie basiert und zur Kasino-Mentalität führt.

Menschen sind – ihrer Natur entsprechend – sehr ungeduldige Wesen

Dass man weltweit vom Corona-Virus den Schnabel voll hat, kann ich sehr wohl verstehen. Aber dass viele jetzt schon im „kommenden“ Impfstoff die rasche Rettung und für morgen dann bereits die rasante ökonomische Rettung erwarten, ist aus meiner Sicht überzogen. Impfstoffe brauchen für die Wunderheilung der Menschen und für die Stabilisierung des Sozial- und Wirtschaftssystems eine bestimmte Zeit.

Richtig erscheint: Heute geben sich manche Menschen auch mit der halben Wahrheit oder noch weniger zufrieden. Das ist halt bequem … Nachdenken ist mit Zeit und Mühe verbunden. Sie (Anleger, Analysten und Ökonomen) mögen im Kontext mit der Covid-19-Krise denken: Vielleicht verschwindet das Virus ja und vielleicht bessert und normalisiert sich dann Vieles auf der bebenden und der zuletzt noch deutlich unberechenbarer gewordenen Mutter Erde. Aber: Die ganze Wahrheit (die indes keiner wirklich kennt) sieht anders aus; auch weil ökonomisch und finanziell halt vieles oder fast alles „erborgt“ ist. Diese gigantischen Belastungen werden irgendwann ihre Wirkung in einer neuen ökonomischen Wirklichkeit entfalten – in welcher Form auch immer.

Die folgenden Zahlen sind extrem alarmierend: Die weltweite Verschuldung wird nach Prognosen des Institute of International Finance (IIF) bis Ende des Jahres das Rekordniveau von 277 Billionen US-$ erreichen (1 Billion entspricht eine 1 mit 12 Nullen, also 1 000 000 000 000 oder eine Million Millionen, Zahlen also, die mit dem menschlichen Gehirn nicht sofort einschätzbar oder bewertbar sind)

Demgemäß entsprechen 277 Billionen US-Dollar der Zahl 277 000 000 000 000 $

Und wer jetzt meint, diese gigantische Summe existiere in „wirklichem Geld“ (also in gedruckten Scheinen oder Münzen), der sollte rasch aufwachen. Dieses „Geld“ ist ein synthetisch kreierter Betrag, der „nur“ fiktiv in irgendwelchen Büchern und Bilanzen steht. Es entspricht mehr als 400 % des Bruttosozialprodukts der entwickelten Länder in der Welt. Auf die USA entfallen 80 Billionen US-Dollar, auf die Länder der Eurozone etwa 53 Billionen US-Dollar. Ergo: Schulden sind kein Geld, sondern eben Schulden.

Die Weltwirtschaft ist im aktuellen Zyklus extrem anfällig

Der IMF prognostiziert, dass die Weltwirtschaft in diesem Jahr wohl um 4,4 % schrumpfen und im Jahr 2021 dann um 5,2 % wachsen wird. Aber wie gesagt: Das sind Prognosen. Vor allem mit Blick auf 2021 habe ich da so meine Zweifel. Die Politiker werden also daher versuchen, die Globalökonomie weiter anzukurbeln, durch Nullzinsen oder Minuszinsen und durch eine weitere Zunahme der Verschuldung. An die rasche Tilgung von Schulden glaube ich nicht. Denn irgendwann werden sie die Schulden dann durch unkonventionelle Maßnahmen (zB durch eine Währungsreform) oder den „Tod des Notenbanksystems“ ver- schwinden lassen, Mit Solidität hat all das nichts zu tun, Das wiederum heißt dann eindeutig: Die Weltwirtschaft ist extrem anfällig.

Sie (nämlich zahlreiche Anleger) wissen mit Blick auf die Themen Börse und Geld möglicherweise in diesen diffizilen Zeiten nicht, was sie tun. Diesen Hinweis leite ich aus einem Beitrag von Wall-Street-Legende Doug Casey ab. Richtig ist: Der mit synthetischem Geld sehr stark aufgeblasene Aktienmarkt weist seit geraumer Zeit eine ungeheure Mutation auf. Er erfüllt daher längst nicht mehr seine eigentliche Aufgabe als Kapitalsammel- und Kapitalverteilungsstelle. Börse ist zum Spielsalon geworden. Und auch mit anderen traditionellen Funktionen hat die Börse heute kaum mehr etwas zu tun. Und wer trägt die Schuld? Keine Frage: Schuld sind nicht zuletzt die oft dümmlich agierenden Politiker, die die Börse und andere Finanzmärkte zu Kapitalhöllen ohne solides Fundament – und damit zu einem bunten Flohzirkus (oder besser: „Flowcircus“) – gemacht haben.

In früheren Zeiten waren die Börsen „Markt der Märkte“

Im Interesse der Wirtschaft (vor allem der „freien Marktwirtschaft“) nahmen die Börsen sehr wohl nützliche Funktionen für mehr oder weniger alle Akteure der Wirtschaft übernahm, ist aktuell eine Fehlfunktion dieser Institution festzustellen. Und zwar in den meisten Ländern … Klar – die meisten Menschen wollen das nicht einsehen. Die Mutation des „Flowzirkus“ Börse hängt nicht zuletzt mit den erwähnten unzähligen Nullen zusammen – nicht nur wegen der steigenden Zahl unverantwortlich agierender Politiker, sondern vor allem auch mit Blick auf die von Politikern im Zusammenhang mit Covid-19 zur „Rettung der Welt“ ins Spiel gebrachten Billionenbeträge. Diese politisch-kreierten Billionen synthetischer Währungen wie Dollar, Euro und anderen Valuten fließen ins nicht mehr wirklich funktionierende Geld- und Kapitalsystem.

Der „Flow“ der Schulden hat das globale Finanzsystem in unverantwortlicher Weise überschwemmt und die Marktkräfte völlig außer Funktion gesetzt. Und so wird aus der sinnvollen Aktienanlage eine unkontrollierte Spekulation mit Aktien. Zudem wird die Vernunft und die datenbasierte Analyse völlig außer Kraft gesetzt. Anleger nehmen Risiken in Kauf, die sie nicht wirklich erkennen und einordnen können. Ich wiederhole die sich mir selbst in diesem Moment stellende theoretische Frage: Was die Gründerväter der freien (und sozialen) Marktwirtschaft wohl dazu sagen würden? Vielleicht würde der eine oder andere Experte heute sagen: „Das Ganze ist schon ein Elend …“

Wenn ich zuletzt in zahlreichen amerikanischen Publikationen lese „Second wave will be a depression“ so entspricht das in etwa jener Prognose, die ich bereits vor mehr als einem halben Jahr abgegeben habe: „Nach Rezession folgt Depression“.

Was mir auffällt

Die von mir als Realistin gesehene und daher sehr geschätzte EZB-Chefin Christine Lagarde hat die Lage in Europa kürzlich im Rahmen einer PK eher düster eingeschätzt. Was noch interessanter ist, war die Einschätzung der Großwetterlage durch Lagarde; denn nach Angaben von Lagarde kann „die Europäische Zentralbank (EZB) weder in die Pleite rutschen noch kann ihr das Geld ausgehen. Dies gelte selbst dann, wenn sie mit billionenschweren Anleihenkäufen auch in Zukunft weiter Verluste mache. Dies sagte sie in einer Anhörung des Wirtschafts- und Wäh- rungsausschusses im EU-Parlament.“

„Als der einzige Herausgeber von Zentralbankgeld in Euro, wird das Eurosystem immer in der Lage sein – wenn erforderlich – zusätzliche Liquidität zu schaffen“, so ihre Ant- wort auf Fragen eines EU-Abgeordneten. Was mir in diesem Zusammenhang am wichtigsten war, ist der Fakt, dass man sich in Brüssel und Frankfurt offensichtlich doch mit ernsten Fragen im Kontext mit der globalen „Schulden-Mount-Everestisierung“ beschäftigt. Daraus schließe ich: Die EZB (und vielleicht auch andere Notenbanken) werden ihr wahnsinniges Spiel der Schulden-Finanzierung und der ungehemmten Fiatgeld-Kreation auch weiterhin spielen (vielleicht auch, weil die Schuldner durch eigenes Versagen selbstgesteuert in die Pleite gehen).

Anleger haben also allen Grund, der Politik zu misstrauen.

Ein aktuelles Beispiel: Völlig ausgebremst durch Covid-19 fühlen sich jene, deren Lebensinhalt darin bestand, rund um die Welt zu touren. Viele Schiffe, Flugzeuge, Busse und Bahnen sind aktuell nicht in der Lage, die „Leinen loszumachen“. Im Gegenteil – sie liegen vor Anker. Hier wird laut nach Hilfe gerufen. Wie werden es die Politiker hinbekommen, Geld in jene Bereiche der „Statisten“ und „Kleinbetriebe“ zu lenken, die vor dem totalen Kollaps stehen? Das ist für mich eine aktuell drängende Frage mit Blick auf die aktuelle Krisenbranche Tourismus. Denken wir daran, dass jeder zehnte Arbeitsplatz in der Welt in Verbindung zur Reise- und Tourismusbranche steht, dann werden diese und zahlreiche andere Probleme dieses einst boomenden Wirtschaftszweigs sichtbar.

„Elend liebt Gesellschaft“, könnte man in diesem Kontext die treffende Aussage („misery loves company“) von Arne Sorenson, CEO von Marriott International, über den globalen Tourismus ins Deutsche übersetzen. Denn Tourismus umfasst auch die Minifirmen und Kleinbetriebe der „realen Wirtschaft“ – also Einzel- betriebe wie Restaurants und Bars, der Buswirtschaft, der Reiseführer und Tour-Guides sowie der Souvenir-Shops und deckt nicht nur die „big travel player“ wie Airlines, Schifffahrt, Kreditkartenorganisationen und Hotels ab. Es gilt also für die Politik ganz konkret, Hilfsgelder in diese „reale Tourismuswirtschaft“ zu pumpen.


Autor: ©Udo Rettberg Publizist / Journalist

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